28.11.2020 / Süddeutsche Zeitung

DAS DOPPELTE DORF

Der kleine Ort Köfering hat ein großes Neubaugebiet ausgewiesen.
Viele sehen die Zuzügler als Chance.
Es gibt aber auch Bedenken

Noch ist da nur eine Baugrube, schlammig rotbraun, gleich vorne am Kreisverkehr. Das werde mal der Kindergarten, sagt Armin Dirschl und deutet aus dem Autofenster. Dann gibt er Gas und fährt auf der schmalen Straße die Felder entlang. Irgendwann, wenn hier all die Bagger vor- und wieder weggefahren sind, wenn all die Kräne auf- und abgebaut sind, wenn bis da hinten zur Bundesstraße die Häuser stehen, dann wird Köfering, Dirschls Heimat, doppelt so viele Einwohner haben wie heute. In zehn Jahren vielleicht, also praktisch auf einen Schlag. Ist das nicht verrückt?

„Das wird schon gewaltig, was da kommt“, sagt der Chef des Sportvereins. „Das wird für uns alle eine große Herausforderung“, sagt der Pfarrer. „Das ist für uns ein Riesenpotenzial“, sagt die Vorsitzende des Obst- und Gartenbauvereins. „Das ist zu schnell“, sagt die Gemeinderätin von den Grünen. Und Armin Dirschl? Von dem könnte jeder Satz stammen. Er sagt aber auch: Das habe der Ort schon einmal hinbekommen, ganz gut sogar. „Auf die Erfahrung können wir zurückgreifen.“

Köfering, keine zehn Kilometer südlich von Regensburg gelegen, entstanden um ein barockes Wasserschloss herum, gut 2700 Einwohner. Seit sechs Jahren ist Dirschl der ehrenamtliche Bürgermeister. 2017 trat er im Gasthof zur Post vor seine Bürger, um das „größte Bauprojekt, das wir je hatten“, vorzustellen: 550 Reihen-, Doppel- und Einfamilienhäuser am Nordrand der Gemeinde, auf 24 Hektar Grund, Gesamtkosten von etwa 400 Millionen Euro, wie die Investoren sagen. Die Regierung der Oberpfalz hat das auf 14 Hektar und 350 Häuser zusammengestutzt, mehr wäre zu viel für Köfering momentan, so das Argument. Mit diesem ersten Abschnitt geht es jetzt los: Seit Juli steht der Bebauungsplan, dieVermarktung läuft, im neuen Jahr wird gebaut. Dass danach der zweite Abschnitt kommen wird, daran zweifeln weder die Investoren noch der Bürgermeister. Und weil auch anderswo im Dorf Dutzende Wohnungen entstehen, macht das am Ende ziemlich viele Neu-Köferinger in ziemlich kurzer Zeit.

Deshalb die neue Kita. Weil sie vermutlich nicht reichen wird, ist eine weitere angedacht. Um die Grundschule vergrößern zu können, hat sich die Gemeinde ein Grundstück gesichert. Das alles erzählt Dirschl in seinem Besprechungszimmer im Souterrain. Dort arbeitet er, auch das Rathaus wird allmählich zu klein. Bald wird ein neues entstehen, schräg gegenüber in den alten Stallungen des Schlosses – und davor ein neuer Dorfplatz samt Café. Millionen-Ausgaben, an denen sich die Wohnungsinvestoren beteiligen. Viele Gemeinden scheuten vor solch massiven Veränderungen zurück, sagt Wilfried Schober vom Gemeindetag, „treten auf die Bremse“ und wachsen nur maßvoll. In Bayern sei Köfering „ein absoluter Ausnahmefall“. In Regensburg zeigt sich seit Jahren, dass Wohnraum-Mangel nicht nur ein Thema der Landeshauptstadt ist. Und Köfering ist ein Paradebeispiel dafür, wie überall auf dem Land kleine Dörfer als Siedlungsreserve dienen, als Druckausgleich für die Städte. Angesichts des Immobilienmarkts ist weniger Köferings Wachstum erstaunlich als die Tatsache, dass dieser Ort nicht längst viel größer ist.

Die Felder, die nun bebaut werden, stehen seit mehr als 20 Jahren als künftiges Baugebiet im Flächennutzungsplan, wie Dirschl erläutert. Das macht manches einfacher: Der Abwasserzweckverband zum Beispiel hat das längst einkalkuliert, da tut’s jetzt ein neues Pumpenhaus, die Kläranlage selbst reicht aus. Den zusätzlichen Verkehr soll eine neue Kreisstraße gleich nebenan aufnehmen– auch die ist seit vielen Jahren geplant, ihr Bau allerdings hängt vor den Verwaltungsgerichten fest.

In all der Zeit wurden laut Dirschl viele Investoren vorstellig, auch die Gemeinde hätte den Grund gerne entwickelt, wäre er nicht so teuer gewesen. Der Eigentümer, der damalige Schlossherr und CSU-Bundestagsabgeordnete Philipp Graf von und zu Lerchenfeld, verkaufte ihn schließlich an zwei Regensburger Immobilienunternehmer. Die holten die renommierten Städteplaner von Albert Speer und Partner ins Boot und entwickelten ein bemerkenswert ambitioniertes Konzept mit viel Grün, das sie jetzt als „GRAF LERCHENFELD QUARTIER“ vermarkten. Für Preise ab 400000 Euro fürs 145-Quadratmeter-Reihenhaus.

Für Investoren ist Köfering ein Traum: Ein eigener Bahnhof, mit dem Zug ist man in zehn Minuten am Regensburger Hauptbahnhof, mit dem Auto in weniger als einer Viertelstunde bei den großen Arbeitgebern wie BMW oder Krones in den Gewerbegebieten südöstlich der Stadt. Wenn man durchkommt bis Obertraubling.

„Auf der B 15 stehen eh schon alle“, schimpft Susanne Leikam, „die Busse sind überfüllt, die Taktung eine Katastrophe, der Bahnhof relativ weitab gelegen.“ Leikam sitzt für die Grünen im Gemeinderat, sie hat – wie alle ihre Kollegen – für das neue Wohngebiet gestimmt. „Der Bedarf ist ja da, die Leute wollen raus ins Grüne, wollen einen eigenen Garten.“ Das sehe sie durchaus. Nur versäume es die Gemeinde gerade, zuerst die nötige Infrastruktur zu schaffen, klagt Leikam, den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Man dürfe nicht nur Spielplätze bauen, sondern müsse auch Angebote für Jugendliche schaffen. Das Wachstum gehe viel zu schnell.

Da gibt ihr der Bürgermeister recht: Er hätte die Erweiterung gerne auf drei, vier Jahrzehnte gestreckt. Doch so einig man sich in fast allen Punkten mit den Investoren gewesen sei, da hätten diese nicht mitgemacht. Das hätte sich nicht gerechnet. Dirschl sagt: „In den sauren Apfel haben wir beißen müssen.“ Verzichten war für ihn keine Alternative: Er habe das ja gesehen bei anderen Gemeinden: Wer nicht wächst, verliert – die Metzger und Bäcker wandern ab, auch die Discounter, so es sie gibt, die Sparkasse, die Arztpraxis. „Das ist dann ein verwaister Ort.“

Genau das sei schon in den 1980er- und 1990er-Jahren das Motiv gewesen, den Ort durch Neubaugebiete zu vergrößern, erzählt Dirschl. „Das hat uns einen Schub gegeben“, nicht nur, weil in der Folge der erste Discounter kam. Von 1988 bis 2003 dauerte die erste Verdoppelung Köferings, keine Gemeinde in Bayern ist in jener Zeit stärker gewachsen. Auf diese Erfahrung könne man zurückgreifen, sagt Dirschl, vor allem wenn es um die Integration der Neubürger geht, das vermutlich schwierigste Unterfangen. Wenn junge Familien kommen, seien die anfangs „sehr mit sich beschäftigt“, brächten sich wenig ein, sei es im Kleinen beim Maibaumaufstellen oder dauerhaft in einem Verein. Erst später, wenn die Kinder aus dem Haus seien, werde das besser. „Jetzt kommen die auch und engagieren sich“, sagt Dirschl über die Zugezogenen. Auch wenn das 20 Jahre gedauert habe.

Na ja, bei einem Drittel der Neuen sei das vielleicht gelungen, sagt Peter Kaindl. „Das ist schon schwierig.“Um die 600 Mitglieder hat der Sportverein Köfering 1926 e.V., dem er vorsitzt, und natürlich sähe es Kaindl gerne, wenn es mehr würden, gerade bei den Kindern. Einen weiteren Sportplatz bräuchte es dann, das habe er dem Bürgermeister schon gesagt. Vor allem aber bräuchte Kaindl engagierte Ehrenamtliche, Trainer, Übungsleiter. Handball und Basketball böte er gerne an oder Dart für die Jungen. „Aber du findest ja keinen mehr, der Verantwortung übernimmt“, sagt Kaindl, „die Jungen haben alle keine Zeit mehr.“ Der Verein entwerfe einen Prospekt, um für sich zu werben, erzählt er, aber ob das reicht? Ob nicht das ganze Projekt den Ort überfordert? Kaindl weiß es nicht. „Ich bin skeptisch, das muss ich ehrlich sagen.“

Da kommt Markus Dirnberger ins Spiel. Er baut die Siedlung und er glaubt, dass deren Anlage und Architektur das alles erleichtern kann. Vier Häusertypen entstehen dort, in einem einheitlichen Aussehen, aber nicht als lange „Reihenhaus-Batterien“, wie er das nennt, sondern um sechs Wohnhöfe herum gruppiert. Diese „Garten-Carrés“ würden das Kennenlernen erleichtern, prophezeit Dirnberger, weil es Gemeinschaftsflächen gebe und nicht nur jeder seinen eigenen Garten habe. Er spricht von „Mikronachbarschaften“. Und wenn sich eine solche zusammenfinde, wenn man sich also mit anderen Familien zusammentue, dann sei es leichter, als Neuling zum Maibaumaufstellen zu gehen.

Die Gärten wiederum sind es, die Kathrin Seemannhoffen lassen. Sie ist 36 Jahre alt, in Köfering geboren, inzwischen wohnt sie mit ihren Kindern wieder auf dem Hof ihrer Familie. Seit eineinhalb Jahren sitzt sie dem Obst- und Gartenbauverein vor. Der stand kurz vor der Auflösung, so erzählt sie, es fand sich kein Nachfolger für den scheidenden Vorsitzenden, da hat sie es gemacht, auch wenn sie lange nicht wollte. „Aber ich habe nicht verstanden, dass das einfach aufhören soll“, sagt Seemann. Nun versuche sie, den Verein zu verjüngen, und da seien Neubürger eine große Chance.

Die Gärten also: Da ziehen Menschen her, die das Grün suchen, aber oftwenig Erfahrung haben. Und da gibt es einen Verein, der sie unterstützen kann. Der sie berät, wie ein naturnaher Garten aussehen könnte. Der ihnen die Geräte leiht. Der ihnen zeigt, wie Sträucher zuschneiden sind. So stellt Seemann sich das vor, so will sie mit den Menschen ins Gespräch kommen. Sie sagt: So könne man „die Leute auch miteinander verbinden“, die im alten Ortskern und die hinten in den Neubaugebieten.

Dieses Integrationsproblem treibt auch Matthias Kienberger um. Haussegnungen, Taufgespräche – als Pfarrer habe er verschiedene Möglichkeiten, „auf Leute zuzugehen und sie einzuladen, ohne sie zu drängen“. Aber dass sich viele Neu-Köferinger auch seiner Pfarrgemeinde anschließen werden, daran zweifelt Kienberger. Die 250 Sitzplätze in der Dorfkirche St. Michael würden wohl reichen – er wäre ja hocherfreut, wenn sie alle besetzt wären. Aber anonymer wird es werden im Ort, fürchtet der Pfarrer. „Der dörfliche Charakter, der wird sehr ins Wanken geraten.“

Bürgermeister Dirschl sagt: „Wir sind ein Dorf und wollen Dorf bleiben.“ Niemand kann ihm sagen, was genau auf Köfering zukommt, wie viele Kinder für die Grundschule, wie viele Menschen, die wieder wegziehen, und wie viele, die dauerhaft bleiben wollen. Exakte Prognosen hat keiner, nur die Hoffnung, dass es klappen wird. Und Dirschls Grundsatz: „Wir wollten keinen Stillstand.“

Quelle:
Süddeutsche Zeitung, 28./29.11.2020
Kassian Stroh